Gurkenwasser, Ingwer und Senf gegen Muskelkrämpfe?

 

Plötzlich, aus dem Nichts, zieht sich der Muskel schmerzhaft zusammen. Manchmal während starker Anstrengung, manchmal einfach so. Woran das liegt, wie man vorbeugen kann – und vor allem: was hilft.

Jedes Jahr stellt sich die Frage, wann es passiert. Die Studienfreunde treffen sich zur Rennradtour im Schwarzwald, und während die Straße in malerischen Kehren zum Schauinsland ansteigt, läuft noch alles glatt. Doch am Belchen, dem dritthöchsten Schwarzwaldgipfel, fährt es den weniger gut Trainierten in die Beine. Aus dem Nichts bohrt sich ein stechender Schmerz in den Oberschenkel. An Weiterfahrt ist nicht zu denken, solange sich die Muskeln anfühlen, als würden sie erst ausgewrungen, dann klein gehäckselt.

Also absteigen, dehnen – und schon kommen die guten Ratschläge: Ein Krampf? Du musst was trinken. Magnesiumtabletten. Nein, Kochsalz und Flüssigkeit. Eine Banane? Besser Energieriegel. Die meisten Mitradler sind Ärzte, und bald verfestigt sich der Eindruck: fünf Mediziner, sechs Meinungen. Doch hört man sich unter Experten um, bekommt man ähnlich unterschiedliche Antworten.

„Die genauen Ursachen von Krämpfen sind noch umstritten“, sagt Stefan Gründer, Physiologe an der Universität Aachen. „Eventuell haben sie auch verschiedene Ursachen.“ Sportwissenschaftler Peter Düking von der TU Braunschweig erwähnt „zwei größere Theorien“, schränkt aber ebenfalls ein: „Ganz klar ist man sich noch nicht.“

Immerhin ist die Beschreibung leicht: Bei typischen Krämpfen handelt es sich um „zeitlich beschränkte, schmerzhafte und unfreiwillige Kontraktionen der Skelettmuskulatur während oder kurz nach dem Sport“, sagt Sportwissenschaftler Karsten Köhler von der TU München. „Leider lassen sie sich schlecht untersuchen, weil sie meist spontan ohne Vorwarnung auftreten und sich im Labor – mit Ausnahme kleiner Muskelgruppen – nicht herbeiführen lassen.“

Warum kommen Wadenkrämpfe oft in der Nacht?

Köhler zufolge gibt es ältere und neuere Theorien. Gemäß der älteren führt Schweißverlust zu Flüssigkeits- und Elektrolytverschiebungen, und das beeinträchtigt die Steuerung der Muskelkontraktion. „Diese Erklärung ist zwar in zahlreichen Studien widerlegt, hält sich aber hartnäckig“, so Köhler. „Die zweite Theorie ist neuer, erklärt Krämpfe aber auch nicht vollständig.“ Demnach handelt es sich beim schmerzhaften Zusammenziehen einzelner Muskeln um eine Störung der neuromuskulären Ansteuerung. Ermüdung und Überlastung beeinträchtigen die Übertragung des Nervenimpulses auf den Muskel, die neuromuskuläre Koppelung.

Normalerweise unterliegt die Muskelkontraktion der willkürlichen Kontrolle. Die motorischen Nerven, auch als Motoneurone bezeichnet, leiten elektrische Signale weiter und setzen den Botenstoff Acetylcholin frei. Dadurch verändert sich das Membranpotenzial an der Muskelzelle, was die Kontraktion auslöst. „Es gibt daher zwei Entstehungsmöglichkeiten für Krämpfe: Entweder die Motoneurone feuern unkontrolliert hohe Impulsraten oder aber das Membranpotenzial der Muskelfaser ändert sich, ohne dass Acetylcholin freigesetzt wird“, sagt Physiologe Gründer.

Gründer erwähnt Fälle, in denen starke Dehydrierung nach Schwitzen, Erbrechen oder Durchfall zu Elektrolytstörungen führt und der Mangel an Natrium, Kalium und Magnesium die Krampfneigung erhöht. Auch von Nierenkranken an der Dialyse, deren Elektrolyte schneller entgleisen als jene von Gesunden, ist eine gesteigerte neuromuskuläre Erregbarkeit bekannt. „Allerdings ist die Beweislage dünn, dass lokalisierte Muskelkrämpfe nach starker körperlicher Anstrengung spezifisch durch Elektrolytstörungen ausgelöst werden“, so Gründer.

Was zusätzlich dagegen spricht: Würden Krämpfe vor allem auf einen Mangel an Flüssigkeit zurückgehen, müssten sie ja nicht nur im aktiv tätigen Muskel auftreten, also bei Läufern in der Wade. „Es müsste dann eigentlich in allen Muskeln zu Krämpfen kommen“, sagt Peter Düking. „Versucht man, im Labor Krämpfe mit Elektroden zu induzieren, spielt Dehydrierung aber keine Rolle.“

Da offenbar nicht allein ein Ungleichgewicht der Elektrolyte Krämpfe begünstigt, muss die neuromuskuläre Kontrolle anderweitig gestört sein: „Die Motoneurone, die zu den Muskeln führen, werden durch andere Nervenbahnen reguliert, etwa im Rahmen von Reflexbögen auf Ebene des Rückenmarks“, sagt Gründer. „Die Feinabstimmung von Aktivierung und Hemmung gerät dann außer Kontrolle und führt zur erhöhten Stimulierung des Motoneurons.“ Vermutlich sind bei Ermüdung die Längensensoren in den Muskeln überaktiviert, während die Hemmung über Spannungssensoren an den Sehnen abnimmt. „Die Stoffwechselbelastung des Muskels bei intensiver Anstrengung könnte die Effekte zusätzlich verstärken“, so Gründer.

Besonders oft sind Wadenmuskeln, aber auch Oberschenkel von Krämpfen geplagt, allerdings können Fußmuskeln und sogar Bauch und Rücken ebenfalls verkrampfen. Viele klagen vor allem nachtsüber Wadenkrämpfe. Die genauen Gründe sind ebenfalls unbekannt. „Womöglich spielen hormonelle Veränderungen, aber auch das erhöhte Körpergewicht mit zusätzlicher Belastung der Waden und die veränderte Durchblutung eine Rolle“, sagt Gründer. Oft finde sich aber keine eindeutige organische Ursache für Krämpfe.

Bewegungsmangel, Alkohol, Koffein, manche Medikamente und Erkrankungen wie Diabetes oder Niereninsuffizienz können ebenfalls die Krampfneigung erhöhen“, sagt Sportwissenschaftler Billy Sperlich von der Universität Würzburg. „Auf Koffein und Alkohol würde ich daher vor einer größeren, körperlichen Anstrengung verzichten und auf eine ausgewogene, mineralstoffreiche Ernährung achten.“ Zudem wird Ausdauersportlern spezifisches Krafttraining empfohlen. So sollten Läufer oder Radfahrer schwächere Muskelgruppen gezielt stärken. Manchmal streikt am steilen Schwarzwaldhang ja der Schneidermuskel, der schräg von der Hüfte über den Oberschenkel bis zur Innenseite des Knies verläuft. Verkrampft er, kann das an untypischen Ausgleichsbewegungen während des Anstiegs liegen.

Was also tun, wenn der Krampf plötzlich einsetzt? Am effektivsten helfen statisches Dehnen, Massage und Wärme. Man sieht es an jedem Bundesligaspieltag, wie Wadenkrämpfe durch Druck der Fußspitzen in Richtung Knie gelindert werden. Wird der Muskel massiert, steigert das ebenso wie Wärme die Durchblutung. „Wärmflaschen, heiße Kirschkernkissen oder ein warmes Bad können Verhärtungen lösen“, sagt Stefan Gründer. „Im Gegensatz dazu wird Kühlung beim akuten Krampf nicht empfohlen.“

Ausreichend zu trinken, ist allgemein sinnvoll, wirkt im akuten Fall aber leicht verzögert. „Schließlich müssen die Getränke erst aufgenommen werden, zudem wirken sie meist weniger effektiv als Stretching“, sagt Karsten Köhler. „Da die meisten Getränke wenig Natrium enthalten, können große Flüssigkeitsmengen zur Hyponatriämie führen, was auch Probleme bringt.“ Manche Ausdauersportler bekamen Herzrhythmusstörungen, weil sie zu viel Wasser getrunken hatten. Säfte, Schorlen oder gesüßte Tees sind besser. Sportgetränke können Flüssigkeits- und Elektrolytverlusten vorbeugen und sich positiv auf die Ermüdung auswirken. Es gibt aber keine gute Evidenz, dass sie gegen Krämpfe wirken.

Gurkenwasser, Essigwasser und scharfe Lebensmittel wie Ingwer und Senf  könnten sinnvoll sein und die Dauer eines Krampfs verringern. „Einzelne Substanzen in diesen Hausmitteln aktivieren temperaturabhängige Rezeptoren im Mund- und Magenraum, die sich günstig auf die neuronale Koppelung auswirken“, sagt Köhler. Die übererregten Nerven werden kurzzeitig beruhigt. „Es gibt einige wenige Studien, die einen möglichen Effekt zeigen, aber die Evidenz ist nicht sehr stark.“

Bananen gelten wegen ihres hohen Kalium-Gehalts als gute Sportlernahrung, aber Kaliummangel ist bei Krampfneigung nicht das Problem. „Es gibt auch keine sichere Evidenz, dass Magnesium hilft“, sagt Sportwissenschaftler Peter Düking. Gegen Krämpfe wird zwar häufig Magnesium empfohlen, aber wenn kein klinischer Mangel vorliegt, gibt es so gut wie keine guten Beweise, dass es vorbeugend von Nutzen ist. Ein Cochrane Review hat 2020 keine Belege dafür gefunden.

Auch Kochsalz ist kein zuverlässiges Hilfsmittel. Zwar erwähnt Düking Studien, wonach der Ausgleich des Natriumchlorid-Verlustes hilfreich war – in anderen Untersuchungen habe sich das aber nicht bestätigt. Eine ausgewogene Ernährung mit genügend Kalium (in Bananen, Kartoffeln, Hülsenfrüchten), Kalzium (in Milchprodukten und grünem Gemüse) und Magnesium (in Vollkorn, Nüssen, grünem Blattgemüse) ist ebenfalls sinnvoll – auch wenn sich akute Krämpfe allein dadurch nicht zuverlässig verhindern lassen.

 

Natürlich sollte die Muskulatur mit leichten Übungen auf Betriebstemperatur gebracht werden, bevor eine größere Belastung ansteht. Auch Wärme kann vorbeugend wirken. Ansonsten gilt es, sich gut auf eine anstehende Belastung vorzubereiten und zwar unter Bedingungen und Temperaturen, die vor Ort zu erwarten sind. Die mentale Einstellung hilft womöglich auch: Locker bleiben und nicht verkrampfen – auch wenn es Berg auf  geht.

Fazit und evidenzbasierte Empfehlungen

Die wissenschaftliche Erkenntnislage zu Muskelkrämpfen zeigt deutlich, dass einfache Erklärungsmodelle der Komplexität dieses Phänomens nicht gerecht werden. Während die traditionelle Elektrolyt-Dehydrations-Theorie durch zahlreiche Studien widerlegt wurde, bietet die neuromuskuläre Kontroll-Theorie eine plausiblere Erklärung, erklärt aber ebenfalls nicht alle Aspekte vollständig. Die Forschung deutet darauf hin, dass Muskelkrämpfe ein multifaktorielles Geschehen darstellen, bei dem Ermüdung, Überlastung und gestörte neuromuskuläre Regelkreise eine zentrale Rolle spielen.

Für die Praxis ergeben sich klare Handlungsempfehlungen: Bei akuten Krämpfen sind statisches Dehnen, Massage, Ingwer, Senf , Gurkenwasser und Wärmeanwendung die effektivsten Sofortmaßnahmen. Traditionelle Hausmittel wie Magnesium oder Bananen zeigen hingegen keine überzeugende Wirksamkeit. Präventiv sollten Sportler auf systematisches Aufwärmen, spezifisches Krafttraining zur Behebung muskulärer Dysbalancen und eine angemessene Belastungssteuerung setzen. Eine ausgewogene Ernährung und kontrollierte Flüssigkeitszufuhr unterstützen die allgemeine Leistungsfähigkeit, sind aber keine Garantie gegen Krämpfe.

Die anhaltenden wissenschaftlichen Unsicherheiten unterstreichen die Notwendigkeit weiterer Forschung. Bis dahin sollten Sportler und Mediziner auf die bewährten, evidenzbasierten Strategien vertrauen und sich von der Vielfalt gut gemeinter, aber wissenschaftlich nicht fundierter Ratschläge nicht irritieren lassen. Die individuelle Herangehensweise, die sowohl präventive Maßnahmen als auch effektive Akutbehandlung umfasst, bleibt der Schlüssel zum erfolgreichen Umgang mit diesem häufigen sportmedizinischen Problem.

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