Ist Sport die Wunderpille gegen alle Zivilisationskrankheiten ?
Sport ist
eines der wirkungsvollsten und sichersten „Medikamente“. Nur leider sind die
wenigsten Menschen ausreichend körperlich aktiv. Welche „Dosierung“
erforderlich ist, um langfristig auch schweren Erkrankungen vorzubeugen, dazu
gibt es mittlerweile klare Empfehlungen.
Etwa 2 Milliarden Menschen, das entspricht mehr als einem Viertel der Weltbevölkerung, sind zu wenig aktiv. In Deutschland erreicht fast die Hälfte der Bevölkerung nicht die von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) empfohlene Bewegungsaktivität. Die Bequemlichkeiten des modernen Lebens – wie Autos, Bürojobs, Aufzüge und Lieferservices – leisten dazu einen Beitrag. Diese gesellschaftliche Bequemlichkeit kommt jedoch mit Kosten: Bewegungsmangel zählt zu den klassischen Risikofaktoren wie Rauchen, Bluthochdruck oder Diabetes. Personen, die „extrem sitzen“ (mehr als 8 Stunden täglich), haben ein um etwa 80 % erhöhtes Risiko für vorzeitigen Tod. Der Spruch „Sitzen ist das neue Rauchen“ findet hierdurch seine Bestätigung.
Es gibt erfreuliche Neuigkeiten: Menschen sind genetisch auf Bewegung ausgelegt, was die zahlreichen positiven Effekte auf die Gesundheit erklärt. Kürzlich veröffentlichte das Journal of the American College of Cardiology einen Artikel, der darlegt, wie viel Bewegung erforderlich ist, um langes Sitzen, beispielsweise am Arbeitsplatz, auszugleichen. Laut der Studie sind 5 Stunden körperliche Aktivität pro Woche notwendig, um tägliches Sitzen von 8 Stunden oder mehr zu kompensieren. Stehen anstelle von Sitzen verbessert das kardiovaskuläre Risiko nicht. Zudem ergab die Studie, dass mehr als 8 Stunden Sitzen pro Tag ohne sportlichen Ausgleich das Risiko für kardiovaskuläre Ereignisse um etwa 80 % steigert.
„Regelmäßige körperliche Aktivität ist hervorragend geeignet, um Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Bluthochdruck, Typ-2-Diabetes, Krebs, Osteoporose, Übergewicht sowie Stress und Burnout vorzubeugen“, lobt Prof. Dr. Ingo Froböse von der Deutschen Sporthochschule in Köln. Sein Ziel ist es, Bewegung wieder zu einem festen Bestandteil im Leben der Menschen zu machen. Dafür setzt er auch auf die Unterstützung von Ärzten.
Sport
verlängert das Leben
Obwohl körperliche Aktivität im ärztlichen Gespräch oft nur beiläufig erwähnt wird, was Patienten kaum motiviert, ihren Lebensstil zu ändern, existieren überzeugende Daten und Fakten, die Ärzte nutzen können, um die konkreten gesundheitlichen Vorteile von Bewegung zu vermitteln. Studien zeigen, dass körperliche Aktivität eine effektive „Anti-Aging-Medizin“ darstellt. Bereits 15 Minuten tägliche Bewegung können das Mortalitätsrisiko um 14 % senken. Jede zusätzliche Viertelstunde verringert das Risiko um weitere 4 %. Hochaktive Personen, die täglich etwa 50 Minuten intensiv Sport treiben, können ihr Sterberisiko fast halbieren. Die lebensverlängernde Wirkung von Sport wurde kürzlich von einem deutschen Forscherteam erklärt: Regelmäßiges Ausdauertraining (dreimal wöchentlich 45 Minuten) steigerte die Aktivität der Telomerase, einem Enzym, das die Schutzkappen der Chromosomen, die Telomere, verlängert und somit die Körperzellen verjüngt.
Aber auch
das Immunsystem profitiert: Ältere Menschen, die ihr ganzes Leben viel
Ausdauersport getrieben hatten, wiesen in einer Studie deutlich aktivere B- und
T-Zellen im Blut auf. Dadurch waren sie weniger anfällig für Infektionen,
chronische Entzündungen und Autoimmunerkrankungen und wiesen einen besseren
Impfschutz auf.
Verschiedene Studien belegen, dass regelmäßige körperliche Aktivität die natürlichen Killerzellen aktiviert, die unter anderem für die Bekämpfung von Krebszellen zuständig sind. Personen, die körperlich sehr aktiv sind – etwa dreimal mehr als von der WHO empfohlen –, können ihr Risiko, an 13 verschiedenen Krebsarten zu erkranken, um bis zu 42 % senken. Dies betrifft unter anderem Darmkrebs mit einer Risikoreduktion von 16 %, Lungenkrebs mit 26 % und Brustkrebs mit 10 %. Selbst nach einer Krebsdiagnose ist es nicht zu spät, mit Sport zu beginnen: Patienten, die an Brust- oder Darmkrebs erkrankt waren und erst danach mit dem Training begannen, konnten ihr Sterberisiko um etwa 28 % verringern, wenn sie den WHO-Empfehlungen folgten. Auch Prostatakrebspatienten profitieren von regelmäßiger Bewegung: Mehr als drei Stunden intensives Training pro Woche konnten die Sterbewahrscheinlichkeit nach einer Diagnose um 61 % reduzieren.
Nur bei
einer Krebsform scheint sich Sport negativ auszuwirken: Körperlich aktive
Menschen haben ein um 30 % erhöhtes Melanom-Risiko, denn sie verbringen viel
Zeit im Freien und Setzen sich dadurch einer erhöhten UV-Dosis aus. Regelmäßige
Hautchecks sind bei ihnen Pflicht.
Krafttraining
gegen Diabetes
Sport ist ein entscheidender Faktor in der Prävention von Diabetes und kann das Auftreten der Krankheit verzögern oder sogar verhindern. Körperliche Aktivität aktiviert einen insulinunabhängigen Mechanismus, der es den Zellen ermöglicht, Glukose effektiver aus dem Blut aufzunehmen, wodurch der Blutzuckerspiegel sinkt und die Insulinsensitivität zunimmt.
Studienergebnisse bestätigen dies: Bereits 2,5 Stunden aktives Spazierengehen pro Woche reduzierten das Diabetesrisiko bei Gesunden um 30 % und unterstützten Diabetiker dabei, ihren HbA1c-Wert um 0,5–0,7 % zu senken. In zwei Dritteln der Fälle konnten Diabetiker ihre Medikation verringern.
„Für den Kampf gegen Diabetes ist neben Ausdauersport besonders Muskelaufbautraining geeignet“, erklärt Froböse. „Muskeln sind effektive Zucker-Verwerter.“ Tatsächlich steigert zusätzliches Muskelgewebe die Glukose-Speicherkapazität des Körpers und senkt den HbA1c-Wert noch weiter. Die positiven Auswirkungen auf den Glukosespiegel können oft schon nach einer Woche Sportaktivität im Blut nachgewiesen werden. Diese Effekte können jedoch ebenso schnell nachlassen: Um sie aufrechtzuerhalten, sollten Trainingspausen nicht länger als zwei Tage sein.
Regelmäßige Bewegung hat auch einen nachweislich positiven Einfluss auf das Herz-Kreislauf-System: Schon 5–10 Minuten langsames Joggen täglich können das Risiko, an einer Herz-Kreislauf-Erkrankung zu sterben, um fast zwei Drittel senken. „Für die Herzgesundheit optimal sind jedoch etwa 3,5 Stunden moderater Sport pro Woche“, empfiehlt Froböse.
Die Gründe
für die positiven Effekte auf das Herz-Kreislauf-System sind vielfältig.
Regelmäßige Bewegung senkt den systolischen/diastolischen Blutdruck um bis zu
11/6 mmHg. Insbesondere Hypertoniker profitieren davon. Weiterhin verbessert
körperliche Aktivität das Lipidprofil und kann das HDL-Cholesterin um bis zu 15
mg/dl ansteigen lassen, die Konzentration von Triglyceriden dagegen um bis zu
38 mg/dl senken. Auch wenn es nur geringe Effekte auf das LDL-Cholesterin gibt,
so kann regelmäßiger Sport insbesondere die Anzahl der kleinen atherogenen
LDL-Partikel um circa 20 % reduzieren und dadurch das Arterioskleroserisiko
senken. Sport hat aber noch weitere antiatherogene Wirkungen: Er fördert die
Ausschüttung von vasodilatatorischen Botenstoffen und induziert die Bildung
neuer Blutgefäße.
Wirksame
Demenzprävention
Aktives Muskelgewebe gibt sogenannte Myokine ab, welche chronische Entzündungen reduzieren und der Bildung von Plaques entgegenwirken. Sind Plaques vorhanden, kann regelmäßige Bewegung deren Stabilität verbessern und ein Aufbrechen verhindern. Zudem unterstützt körperliche Aktivität die parasympathische Kontrolle des Herzschlags und verringert die Anfälligkeit der Kardiomyozyten für Störungen.
Die Wirkung auf das Gehirn ist ebenfalls bemerkenswert. „Bereits 10 Minuten Spazierengehen können die Vernetzung unserer Neuronen und die Gedächtnisleistung steigern“, sagt Prof. Michael Yassa, Neurobiologe an der Universität Irvine. Körperliche Aktivität fördert das Wachstum neuer Gehirnzellen im Hippocampus und im frontalen Kortex, was die Lern- und Gedächtnisfähigkeit verbessert und so der Entwicklung von Demenz entgegenwirkt. Eine 44-jährige Langzeitstudie zeigt: Personen mit hoher Fitness hatten ein bis zu 88 % niedrigeres Risiko für Demenz. Die positiven Effekte werden wahrscheinlich durch das Hormon BDNF vermittelt. Schon 20–40 Minuten Ausdauersport können die BDNF-Konzentration um 32 % steigern, während Inaktivität sie um 13 % senkt.
Wirksam
wie Antidepressivum
Sport steigert die Konzentration von Dopamin, Serotonin und Noradrenalin im Blut, was durch Aktivierung des Belohnungssystems die Stimmung aufhellt und Stress reduziert. Somit ist körperliche Betätigung ein sehr wirksames Mittel gegen Depressionen: Studien belegen, dass 30 Minuten Joggen pro Woche genauso effektiv sein können wie Antidepressiva.
Die Liste der positiven Effekte von Sport ist nahezu unendlich. Zahlreiche Studien belegen, dass Sport nicht nur zum Gewichtsverlust beiträgt, sondern auch viele weitere gesundheitliche Vorteile hat. Es besteht eine klare Dosis-Wirkungs-Beziehung. Die Empfehlungen der WHO sind für Froböse nicht ausreichend: „Meiner Meinung nach sollten sie verdoppelt werden.“ Auch der Neurobiologe Yassa rät zu etwa 60 Minuten mehr Bewegung pro Woche.
Diese Wissenschaftler könnten richtig liegen: Traditionelle Jäger- und Sammlervölker sind täglich etwa 6–8 Stunden aktiv und zeigen nicht die typischen Zivilisationskrankheiten. Solche Extremleistungen sind jedoch nicht nötig, um von den positiven Effekten regelmäßiger Bewegung zu profitieren. „Wir sollten den Alltag wieder zur Trainingsstätte machen“, meint Froböse.
Neben
individuellem Einsatz – Treppe statt Aufzug, Stehen statt Sitzen – fordert er
politische Maßnahmen, sei es die Schaffung von Bewegungsräumen oder die
Ausschilderung von Fußwegen statt von Parkplätzen. Auch Schrittzähler können
dabei helfen, die eigenen Erfolge sichtbar zu machen und einen Anreiz für mehr
Bewegung zu setzen.
Neben dem Ausdauertraining rät Froböse, insbesondere älteren Menschen, zu funktionellem Krafttraining der großen Muskelgruppen, um dem schnellen Muskelabbau vorzubeugen und die Sturzgefahr zu minimieren. "Hohe Gewichte und wenige Wiederholungen sind hierbei effektiv", erklärt der Sportwissenschaftler. Außerdem können Senioren ihre Flexibilität und Koordination durch Gymnastik- und Tanzkurse verbessern. "Es sollte vor allem Freude bereiten", betont Froböse.
Sport auf
Rezept
Bewegung dient oft als ein kostenloses Universalheilmittel gegen viele Krankheiten und kann in ihrer Wirksamkeit mit Medikamenten konkurrieren. Trotzdem steigt der Bewegungsmangel in der Gesellschaft stetig an, was enorme volkswirtschaftliche Kosten verursacht.
Selbst ältere Menschen und Patienten mit Vorerkrankungen sollten nach einer ärztlichen Untersuchung zu körperlicher Aktivität ermutigt werden. Ein „Sportrezept“, das über die Art, Dauer, Häufigkeit und Intensität der empfohlenen Bewegung aufklärt, könnte den Abschluss des Beratungsgesprächs bilden.
Empfehlungen
der WHO zu körperlicher Bewegung
- Erwachsene im Alter von 18–64 Jahren sollten sich pro Woche mindestens 150 Minuten moderat oder 75 Minuten intensiv bewegen, wobei beide Aktivitätsformen auch gemischt werden können.
- Moderate körperliche Aktivität umfasst dabei Sport mit 50–70 % der maximalen Herzfrequenz, bei dem man sich noch unterhalten kann (zügig mit dem Hund spazieren gehen, mit dem Fahrrad zur Arbeit fahren).
- Intensive körperliche Aktivität liegt im Bereich von 70–85 % der maximalen Herzfrequenz (z. B. Joggen, schnelles Radfahren). Eine Unterhaltung ist im Regelfall nicht mehr möglich.
- Die Länge der Sporteinheiten sollte mindestens 10 Minuten betragen.
- Muskelaufbautraining sollte an mindestens 2 Tagen pro Woche durchgeführt werden.
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